Ausgezeichnete Bürger
Ein Beitrag zur Debatte über das Bürgersein in der spätwilhelminischen Monarchie*
Kai Drewes
Nahes, fernes 1913: [1] Selten gerät gleich ein ganzes Jahr, von dem uns zwei Weltkriege und ein Jahrhundert trennen, in den Blick einer größeren Öffentlichkeit, wird eine Jahreszahl zur Chiffre für buchstäblich epochales Staunen. [2] Wobei Weltkrieg das entscheidende Stichwort ist, geht es doch um das letzte Friedensjahr vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Unser Wissen um das, was bald darauf geschah, spielt bei der Rückschau eine zentrale Rolle. [3] In einer ersten Lesart steht 1913 für trügerische Sicherheit einer ihres bevorstehenden Endes nicht gewärtigen (europäischen) Welt. [4] Eine zweite, zunehmend einflussreichere Lesart geht dahin, 1913 näher an unsere Zeit zu rücken: als epochales Jahr, als Geburtsstunde der modernen Welt – für deren Entfaltung der Krieg einen jähen Einschnitt bedeutet habe. Die interessante Dissonanz der Interpretationen ist Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen.
Dient ein Jubiläum wie hier als Anlass für eine breite Ausleuchtung vergangener Wirklichkeit, ist dies aus wissenschaftlicher Sicht erfreulich. [5] Und ungewöhnlich spannend sind sie, diese Jahre um 1910! Doch werden bestimmte Erzählungen wieder und wieder aufgerufen und weitergesponnen, droht Verunklarung durch Klischeebildung. Zwei Beispiele anhand von wiederkehrenden Erinnerungspunkten, die 2013 eine gewisse Rolle spielten. In den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg schufen Kandinsky, Malewitsch und einige wenige andere gegen allerlei Widerstände die abstrakte Malerei – aber handelt es sich hierbei nicht um eine nachträgliche (Selbst-)Heroisierung? War die Stilgeschichte nicht viel verschlungener, gar nicht so revolutionär, und erhielten nicht einige Bilder wie das berühmte Schwarze Quadrat erst Jahrzehnte später durch gezielte Umbenennung ihre wirkungsvollen Namen? [6] Mit der skandalumwitterten Premiere des Ballettstücks Le sacre du printemps von Strawinsky und Nijinsky begann am 29. Mai 1913 in Paris auch auf diesem Feld die Moderne – doch ist die Aufführung von allerlei Mythen umrankt und in vielem längst nicht mehr rekonstruierbar, war jedenfalls seinerzeit wohl weder eine völlige Neuerung noch ein solch großer Skandal wie immer wieder angenommen. [7] Die folgenden Seiten handeln von einer anderen, einer geschichtswissenschaftlichen Klischeebildung: [8] Selbstbewusst habe sich um 1900 das deutsche Bürgertum von Monarchie und Adel als Relikten einer überkommenen Sozialordnung abgewandt, niedergeschlagen habe sich diese Haltung nicht zuletzt in der stolzen Ablehnung von Adels- und Ordensverleihungen durch Bürgerliche. Im Folgenden soll demgegenüber gezeigt werden, wie ausgezeichnet sich ein erfolgreiches wirtschaftsbürgerliches Leben um 1900 oft darstellte, soll heißen: Wie verbreitet der Wunsch nach Auszeichnungen war. Und es soll auf die wechselnden Deutungsmuster der Bürgertumsforschung nach 1945 eingegangen werden: Hatte das deutsche Bürgertum der Zeit Wilhelms II. zunächst keine gute Presse, so ließ die intensive Bürgertumsforschung der letzten 25, 30 Jahre ihren Gegenstand in immer besserem – nämlich modernerem – Licht erscheinen. Am Beispiel von Walther Rathenau soll veranschaulicht werden, wie kompliziert sich die Dinge verhielten, im Kaiserreich selbst wie in dessen Nachbetrachtung.
Wie gesichert das Wissen um ein angeblich monarchie- und nobilitierungsabholdes, modern gesonnenes Bürgertum der Zeit um 1900 erscheint, zeigen zwei erfolgreiche populärwissenschaftliche Sachbücher der letzten Jahre. [9] In Florian Illies’ 1913 heißt es über den Berliner Kohleindustriellen und Kunstmäzen Eduard Arnhold, der in diesem Jahr als einziger Jude unter Wilhelm II. Mitglied des Preußischen Herrenhauses wurde: „[A]uch geadelt sollte er werden, doch das lehnte Arnhold ab.“ [10] Und Philipp Blom weiß in seinem Band über das damalige Europa zu berichten: „Weit davon entfernt, die autoritätsvernarrten Untertanen zu sein, als die sie viele Historiker noch immer darstellen, waren große Teile des Bürgertums selbstbewußt und stolz auf ihre Errungenschaften und ihre bürgerlichen Freiheiten und betrachteten die Aristokraten als eine Klasse von degenerierten Parasiten mit überholten Werten. Das Bürgertum definierte seine eigenen Hierarchien anhand von Bildung und bürgerlichen Errungenschaften wie geschäftlichem Erfolg oder Wohltätigkeit. Viele prominente und wohlhabende Bürger, denen ein Adelstitel angeboten wurde, wiesen ihn zurück. […] Deutsche Geschäftsleute wollten Kommerzialräte werden, ein Emblem der Verläßlichkeit und des ehrenhaften Betragens, wertvoller als ein ‚von‘ im Namen.“ [11] Tatsächlich ist die historische Forschung im Gegensatz zu Bloms Behauptung keineswegs mehr auf „autoritätsvernarrte Untertanen“ fixiert, wenn sie vom wilhelminischen Bürgertum spricht: Geadelt zu werden, das sei, wie es heute oft heißt, für deutsche (Groß-)Bürger um 1900 unattraktiv gewesen, weshalb sie oft genug sogar Adelsofferten Wilhelms II. ausgeschlagen hätten – im Gegensatz zu Kommerzienratstiteln und Ehrenbürgerwürden, die als bürgerlich konnotierte Auszeichnungen willkommen gewesen seien. Die immer wieder angeführten Beispiele für Adelsverweigerungen wie das des schwerreichen Arnhold (tatsächlich ein treuer Anhänger der Hohenzollern-Monarchie noch nach deren Abschaffung 1918) sind allerdings allesamt nicht zu belegen, sondern Resultate verwickelter Geschichten von meist nachträglichen Behauptungen und Projektionen. Diese Rezeptionsgeschichte der Zeit nach 1918 ist bemerkenswert ihrer Bedeutung wegen (denn zur Frage der Attraktivität staatlich-monarchischer Titel äußern sich nahezu alle Historikerinnen und Historiker, die über das Bürgertum des Kaiserreichs schreiben) und wegen der mehrfachen Pirouetten, die in ihr bei genauem Hinsehen auszumachen sind. Schon zur Zeit des Kaiserreichs wurde zwar gegen eine angebliche „Feudalisierung“ eines sich selbst verleugnenden Bürgertums polemisiert, von etwaigen Titelablehnungen, gar in großer Zahl, war aber damals bezeichnenderweise noch nicht die Rede. In der Zwischenkriegszeit wollten dann jedoch einige Großbürger den nunmehr fast allseits gänzlich ungeliebten Ex-Monarchen Wilhelm II. schon vor 1918 so gut als möglich gemieden und Angebote zumal von Adelstiteln selbstbewusst zurückgewiesen haben. Solche Behauptungen ohne verlässliche Quellengrundlage gibt es mittlerweile für immer mehr bedeutende Wirtschaftsbürger der wilhelminischen Zeit, aufgestellt durch Nachkommen oder Historiker. Die Bankiers Moritz und Max Warburg etwa hätten „nur abgewunken, als man ihnen den Kauf eines Adelstitels anbot“. [12] Zu beachten ist bei alledem ein wichtiger Wandel in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. Denn zunächst war Jahrzehnte lang das damals schon traditionsreiche Sprechen von einer Anbiederung des deutschen Bürgertums an Thron und Adel höchst plausibel erschienen und hatte ein wichtiges Element des vielfach angenommenen deutschen „Sonderwegs“ gebildet, welcher Unheil über Deutschland und die Welt gebracht habe. [13] Vor allem seit den 1990er Jahren wurde nun aber oft das genaue Gegenteil angenommen: Von einer „Feudalisierung“ des Bürgertums um 1900 könne gar keine Rede sein. Dies zeige sich nicht zuletzt darin, dass Adelsangebote stolz abgelehnt worden seien – von prominenten Industriellen und Bankiers wie Eduard Arnhold, Albert Ballin, Carl Fürstenberg, Friedrich Alfred Krupp, James Simon, August Thyssen, Moritz und Max Warburg und anderen: nicht nur, aber insbesondere von Juden. Die neue Lesart erschien offensichtlich wiederum derart plausibel, dass eine detaillierte Quellenkritik nicht für nötig befunden wurde. Stattdessen wurde der angeblich verbreiteten Ablehnung bestimmter staatlich-monarchischer Auszeichnungen eine angeblich besondere, bürgerliche Wertschätzung für Ratstitel sowie städtische Ehrenbürgerwürden entgegengestellt: gute Würden, schlechte Würden. [14] Diese einflussreiche neue Erzählung hat nur einen Haken: Sie stimmt nicht. Die Jahre um 1900 waren nicht nur eine Blütezeit von Bürgertum und Kapitalismus, sondern auch noch einmal eine von Auszeichnungen, und zwar jedweder Art. Wer genau hinschaut, stellt fest: Damals gab es in Deutschland und andernorts vor allem in den oberen Etagen der Gesellschaft, aber mit breiter Ausstrahlung nach unten, noch und mehr denn je Titel, Orden, Ehrenwürden und dergleichen mehr in Hülle und Fülle; [15] unternehmerischer Erfolg und bürgerlicher Stolz waren mit staatlich-monarchischen Auszeichnungen (auch aus dem Ausland) und sonstigen Mitteln der Distinktion ganz hervorragend vereinbar. Titel und Orden begegneten häufig und selbstverständlich im Alltag wie auch in der Presse, [16] spielten erkennbar eine wichtige Rolle, und viele – keineswegs nur eingefleischte Monarchisten – unternahmen vieles, um verschiedenste Auszeichnungen zu sammeln. Neu verliehene Adelstitel waren nur eine, freilich eine besonders prestigeträchtige Auszeichnungsform, die schwieriger als anderes zu erlangen war und im Fall von Wirtschaftsbürgern in der Regel ein weit überdurchschnittliches Vermögen und Spendenaufkommen, einen langen Vorlauf und im Fall einer jüdischen Herkunft die (möglichst evangelische) Taufe erforderte. Selbstverständlich gelüstete es nicht jedem Bürgerlichen nach jeder erreichbaren Auszeichnung, doch deutlich zu erkennen ist beispielsweise ein Zusammenhang zwischen besonders großen Vermögen und den höchsten möglichen Auszeichnungen, erblichen Nobilitierungen und Berufungen ins Herrenhaus auf Lebenszeit; [17] in Preußen wie erwähnt unter Ausschluss von Juden, sodass es etwa in Berlin in der Tat viel weniger Adelige jüdischer Konfessionszugehörigkeit gab als in Wien oder London. Die fortwährende Diskriminierung jüdischer Großbürger im Fall höherer Auszeichnungen macht es umso reizvoller, deren Distinktionsverhalten zu betrachten: Führte die Benachteiligung in ihrem Fall tatsächlich zu einer Abneigung gegen Auszeichnungen? Das Beispiel Walther Rathenaus ist hierfür trotz seiner vielen Eigenheiten von besonderem Interesse, denn wie dieser zu aristokratischen Attributen stand, ist in die verschiedensten Richtungen interpretiert worden – widersprüchlich wie schon sein Leben und Denken gewesen waren. Nur schlaglichtartig sollen an Rathenaus Fall einige wichtige Aspekte zum Themenfeld Bürgertum und Auszeichnungswesen aufgezeigt werden. [18] In den Gotha wurde Rathenau (der sich wohl selbst gelegentlich als „Patrizier“ sah [19]) mangels Nobilitierung nicht aufgenommen, und darüber, ob er sich einen Adelstitel jemals gewünscht hat, lässt sich trefflich streiten. [20] Als nicht konvertierter Jude durfte er sich unter Wilhelm II. ohnehin keine realistischen Hoffnungen auf eine Adelsverleihung machen, [21] doch behaupteten 1912 die Macher des antisemitischen Adelsalmanachs Semi-Gotha (und glaubten es womöglich selbst), die Verleihung eines Adelstitels an Emil Rathenau, seinen Vater, stehe unmittelbar bevor. [22] Das stimmte zwar nicht, aber immerhin war der einflussreiche AEG-Lenker von Reichskanzler Bülow um 1905 einmal für kurze Zeit durchaus, wenn auch nicht allzu konsequent, für eine Mitgliedschaft im Herrenhaus in Aussicht genommen worden; [23] kaum vorstellbar, dass er eine Berufung auf Lebenszeit in die erste Kammer des preußischen Parlaments, wäre sie zu Stande gekommen, abgelehnt hätte. Was der Senior im Laufe und vor allem gegen Ende seines Lebens tatsächlich an Auszeichnungen erhielt, waren unter anderem drei Ehrendoktorwürden, der prestigeträchtige Titel Geheimer Baurat (angesichts seiner unternehmerischen Tätigkeit im Infrastrukturbereich offenbar naheliegender und vermutlich noch ehrenvoller als sein Pendant, der Geheime Kommerzienrat), dazu verschiedene preußische sowie belgische, französische und österreichische Orden. [24] Seine Frau Mathilde hatte zumindest 1872 wie auch eine Reihe anderer Damen der Berliner Gesellschaft den württembergischen Olga-Orden erhalten, [25] womit der Einsatz von Zivilisten bei der Pflege verwundeter Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg ausgezeichnet wurde. In der Todesanzeige der Familie für den 1915 verstorbenen Emil Rathenau im Berliner Tageblatt wurde der Verstorbene als „Geheimer Baurat, Dr. ing. und phil.“ bezeichnet. [26] Fast gleichlautend (diesmal mit Hinweis darauf, dass die Promotionen ehrenhalber erfolgt waren) nannte Walther Rathenau 1922 in seinem Personalbogen für das Auswärtige Amt seinen Vater „Geheimer Baurat Dr. ing. und Dr. phil. h. c. Emil Rathenau“. [27] Heißt dies nun, der Geheimratstitel (der nach dem Ende der Monarchie nicht mehr verliehen wurde) war und blieb für Vater und Sohn so wichtig wie ein Namensbestandteil, die Orden hingegen unwichtig, von denen in der Traueranzeige keiner, auch nicht summarisch (mit einer Formulierung wie „Träger hoher Orden“), genannt wurde? Wohl kaum. Ein Porträtfoto Emil Rathenaus, 1908 aus Anlass seines runden Geburtstags aufgenommen, zeigt den energischen 70-Jährigen im Frack und ganz selbstverständlich mit sämtlichen Orden angetan, und so, formvollendet dekoriert, empfing er auch seine Gäste zu seinem Geburtstagsbankett. [28] Gewiss hat er seine Orden und erst recht alle auf einmal nur zu besonderen Anlässen getragen; [29] unwichtig, gar von offizieller Seite im In- und Ausland aufgedrängt und von ihm nur widerwillig angenommen und getragen, waren sie mitnichten. Schwer zu sagen ist allerdings, ob den Hinterbliebenen 1915, insbesondere aber Walther Rathenau nach 1918, die väterlichen wie die eigenen Orden noch ebenso wichtig waren. Als die preußische Regierung und formell Wilhelm II. 1898 Emil Rathenau den Roten Adlerorden 4. Klasse verlieh (es war seine erste Dekoration dieser Art [30]), schrieb der Sohn seiner Mutter von der „erfreuliche[n] Nachricht vom Eintreffen des roten Vögelchens – IV. Klasse“ und den „hohen Ordensinsignien“, die er vorübergehend bei sich verwahre. [31] Der halb ironische Ton sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Walther Rathenau selbst die Erlangung von Orden, die zumindest symbolisch mit der Hohenzollern-Monarchie verbunden waren, durchaus wichtig war. Beispielsweise wünschte er sich um 1910 den Roten Adlerorden 2. Klasse als sichtbare Belohnung dafür, dass er Kolonialstaatssekretär Dernburg schon zum zweiten Mal auf eigene Kosten nach Afrika begleitet und Betrachtungen zur dortigen Lage angestellt hatte. Gleichzeitig kritisierte er jedoch Pläne, die Finanzierung der künftigen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft durch reiche Spender aus der Wirtschaft mit Orden und anderen Auszeichnungen zu vergelten, denn solche sollten, so Rathenau in einer Denkschrift, besser immaterielle Leistungen honorieren: Offenbar wollte er persönlich lieber als Publizist und Politiker denn als Großindustrieller ausgezeichnet werden. [32] Dass Walther Rathenau im Jahr 1900 seinerseits die 4. Klasse des Roten Adlerordens erhalten hatte, wahrscheinlich für einen elektrochemischen Vortrag im Beisein des Kaisers, [33] verweist allerdings eher auf seine Rolle in der elektrotechnischen Industrie und die große Bedeutung der Industrieforschung für die AEG, denn abgesehen von seiner naturwissenschaftlichen Dissertation war er selbst kein Wissenschaftler. Trotz seiner Kritik am faktischen Tauschgeschäft zwischen Staat und Großunternehmern in Form von Spenden gegen Auszeichnungen nahm Rathenau 1911 offenbar keinen Anstoß daran, dass der Geschäftsführer des Scherl-Zeitungskonzerns seinem prominenten Chef August Scherl „den Stern zum Roten Adlerorden II. Klasse verschaffen möchte“. In seinem Tagebuch vermerkte Rathenau nur, dass er ein Empfehlungsschreiben an Friedrich von Hollmann ausstellte, den einflussreichen Ex-Staatssekretär des Reichsmarineamts und jetzigen Aufsichtsratsvorsitzenden der AEG. [34] Es war wahrscheinlich nicht das einzige Mal, dass Rathenau aufgrund seiner Position und Kontakte als Mittler eingeschaltet oder zumindest angefragt wurde, wenn es um die Anbahnung von Auszeichnungen ging; über die Spielregeln solcher Auszeichnungsinitiativen und seine eigenen Möglichkeiten dabei war er, wie die Notiz zeigt, genau im Bilde. Dass Rathenau das Spiel mitspielte, heißt keineswegs, dass er es voll und ganz befürwortete, wohl aber, dass er sein Vorhandensein, seine Mechanismen und seine gelegentliche Beteiligung daran als eher gewöhnlich ansah. Der Admiral und Spitzenbeamte Hollmann war 1905 geadelt worden, die Rathenaus blieben bürgerlich. In London hätte es jemand wie Walther Rathenau um diese Zeit wohl längst zum liberalen Unterhausabgeordneten, wenn nicht Minister gebracht und wäre einige Jahre darauf mindestens Baronet, später vielleicht auch Baron, also zugleich Mitglied des Hochadels und des Oberhauses geworden. [35] Unter preußisch-deutschen Bedingungen ließ sich eine öffentliche Karriere wie die seine deutlich langsamer an. Die deutschen Liberalen waren in dieser Zeit weit davon entfernt, Regierungsmitglieder zu stellen, geschweige denn einen starken Einfluss auf das Nobilitierungs- und Auszeichnungswesen zu haben; und aus Sicht der tonangebenden Kreise, darunter nicht zuletzt Altadelige, kam ein ungetaufter Jude für eine Aufnahme in den Adel schlicht nicht in Frage. Einmal abgesehen von ihrer Konfession, gehörten jedoch die Rathenaus innerhalb des Großbürgertums vielleicht noch nicht ganz der Spitzengruppe jener schwerreichen Bankiers und Industriellen in Preußen an, die bei Adelsverleihungen von Wirtschaftsbürgern zuallererst berücksichtigt wurde. Zwar besaß Emil Rathenau 1912 ein Vermögen von geschätzt 7,68 und Walther Rathenau eines von 2,62 Millionen Mark [36] – stattliche Summen, zumal in heutiger Kaufkraft, doch die sieben um 1910 Geadelten, die als Juden geboren worden waren und sich als Erwachsene hatten taufen lassen, verfügten jeweils über mindestens zweistellige Millionenvermögen, meist doppelt so viel wie Emil Rathenau oder noch deutlich mehr. [37] Diese neuadeligen Großbürger jüdischer Herkunft, doch evangelischer Konfession waren im Durchschnitt wohl auch noch eine ganze Spur mondäner, was sich unter anderem oft in kostspieligen Honorarkonsulaten (samt Amtsuniform für besondere Anlässe) und entsprechenden Kontakten, im Besitz von Rittergütern, in erlesenen Clubmitgliedschaften und nicht zuletzt in Großspenden für Museen, Universitäten etc. äußerte. Demgegenüber wirkt der mehrfach dekorierte, zusammen mit seiner Frau Mathilde auch als Stifter philanthropisch hervorgetretene Multimillionär Emil Rathenau tatsächlich relativ bescheiden, während die gesellschaftlichen und sonstigen Ambitionen seines Sohns schon deutlich weiter gingen. Ab etwa 1906 galt Walther Rathenau vielen als jemand, mit dem politisch gerechnet werden musste, und gern wäre er schon damals Minister oder Botschafter geworden. [38] Daraus wurde trotz seines vergleichsweise guten Verhältnisses zu Reichskanzler Bülow nichts, und die von diesem gegen Widerstände unterstützten Verleihungen des Kronenordens 2. Klasse 1907 (nach der ersten Afrikareise) und des Roten Adlerordens 2. Klasse 1910 sahen beide als eine gewisse Kompensation für die ausbleibende Verleihung eines politischen Amts und als Ermutigung an. Bülow vermerkte dazu intern: „Wenn wir Rathenau nicht irgendein Pflaster geben (Orden oder Geheimrat), wird er sehr entmutigt.“ [39] Ohne Zweifel waren diesem die Ordensverleihungen äußerst wichtig gewesen, nicht zuletzt mit Blick auf sein Prestige als öffentliche Person, die sich für höhere Aufgaben qualifizierte. [40] Entsprechend brachte der dankbare Rathenau am Vortag des Ordens- und Krönungsfests im Berliner Schloss im Januar 1910 gegenüber Bülow seine „hohe Freude“ zum Ausdruck, wissend, dass er die Dekoration dem ein halbes Jahr zuvor zurückgetretenen Kanzler verdankte. [41] Stolz war Rathenau dann auch auf das Eiserne Kreuz 2. Klasse, das er 1915 für seine Verdienste bei der Organisation der Kriegswirtschaft erhielt, erst „das vierte, das am weißen Bande [d. h. für Zivilisten, K. D.] verliehen wurde“ und von dem er sich auch einen gewissen Schutz gegen Schmähungen versprach. [42] Hinzu kam noch aus dem Ausland unter anderem 1911 der oranische Hausorden als Dank für die Unterstützung bei der Überführung der sterblichen Überreste einer niederländischen Prinzessin von Schloss Freienwalde nach Delft (den zu tragen Rathenau wie üblich umgehend und „ergebenst“ beim Berliner Polizeipräsidenten beantragte). [43] Freienwalde, ein weiteres wichtiges Kapitel: Rathenau hatte 1909 aus Kronbesitz ein ehemaliges Hohenzollern-Schloss nahe Berlin erstanden, ließ es mit einigem Aufwand im Stil der Zeit um 1800 wieder herrichten und verbrachte hier in den Vorkriegsjahren viel Zeit. [44] Hatte er den liberalen Berliner Zeitungsverleger, Multimillionär und aktiven liberalen Juden Rudolf Mosse, wahrlich kein ausgesprochener Kaiser- und Junkerfreund, um 1905 verschiedentlich und völlig korrekt mit „Herr Rittergutsbesitzer“ angeschrieben, [45] war er nun selbst zum Schlossbesitzer avanciert, während er sich um dieselbe Zeit im Grunewald eine stattliche Villa errichten ließ. Der Kauf Freienwaldes war sicherlich nicht bloß „gleichsam ein Symbol dafür, daß Rathenau gedachte, künftig die Existenz eines seinen Neigungen lebenden Landedelmanns des 18. Jahrhunderts, der friederizianischen Zeit, zu führen“. [46] Rathenau, dessen Weg zurück in die AEG steinig war, mag sich bisweilen mit solchen Gedanken getragen haben; doch gerade mit Blick auf den Schlosskauf wäre es falsch, seine vielfältigen Geltungswünsche außer Acht zu lassen: Der Besitz eines repräsentativen Schlosses (das überdies von vielen fälschlich mit der verehrten Königin Luise in Verbindung gebracht wurde) verschaffte ihm, so Wolfgang Brenner, „einen aristokratischen Nimbus“ und unterstrich zugleich seinen Anspruch, ein wahrer Intellektueller zu sein – der sich zum Denken und Schreiben aus den Niederungen der Großstadt und von seiner Funktion als Wirtschaftskapitän aufs Land zurückzieht. [47] Was hielt der bürgerliche Schlossbesitzer Rathenau vom Adel? Wieder fällt die Antwort nicht ganz leicht, doch lässt sich eine Entwicklung ausmachen. Um 1890/91, als Rathenau seinen Wehrdienst ableistete, identifizierte er sich noch stark mit dem ostelbischen Adel (wie schon sein Theaterstück Blanche Trocard von 1887 deutlich macht) und wäre gern Offizier geworden. [48] Das bekannte Foto des Vizewachtmeisters im Harnisch zeigt einen jungen Mann, der sichtbar stolz war, Soldat zu sein (und zwar als Gardekürassier: bei einem der vornehmsten Regimenter der Kavallerie als ohnehin feinster Waffengattung). [49] Umso größer die Verletzung, die er später in einer berühmt gewordenen Formulierung als allgemeine Erfahrung deutscher jüdischer Männer beschrieben hat: am Ende seiner Militärzeit nicht zum Offizier befördert zu werden (was dem Antisemitismus nicht zuletzt im sich selbst ergänzenden Offizierskorps geschuldet war, also gerade im Fall der Kavallerie vor allem auch adeligen Offizieren). Rathenau schrieb 1911 in seinem Aufsatz Staat und Judentum. Eine Polemik: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: Wenn ihm zum erstenmal bewußt wird, daß er als ein Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn daraus befreien kann.“ [50] Walther Rathenau, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft schmerzliche Rückschläge in seiner militärischen und politischen Laufbahn hatte hinnehmen müssen, sah später den von ihm einst verehrten preußischen Adel schlicht als eifersüchtig auf jüdische und auch nicht-jüdische Mitglieder des Bürgertums an; dieses werde aber absehbar immer noch weiter aufstreben und den ihm zustehenden Einfluss erlangen (wie er etwa 1911 im selben Beitrag ausführte). [51] Wenn Rathenau im Kaiserreich mehrfach die exklusive Rekrutierung des diplomatischen Dienstes kritisierte, dann wohl nicht zuletzt, weil er selbst darunter zu leiden hatte. [52] Freilich wollte er noch um 1910 die Monarchie zwar konstitutionell weiter einhegen, doch nicht abschaffen, da den Trägern der monarchischen Gewalt ein besonderes ererbtes Verantwortungsgefühl gegeben sei. [53] Von vorbehaltloser Begeisterung für den Adel konnte in seinem Fall jedoch wahrlich keine Rede mehr sein. Anfang 1919 resümierte er in einem Brief: „Die Herrschaft einer jeglichen Schicht im Staate halte ich für verderblich. So sympathisch mir menschlich und persönlich die feudale Kaste war, so sehr habe ich sie bekämpfen müssen, solange sie das Monopol der politischen Macht besaß.“ [54] Rathenau gab also noch nach Abschaffung der Monarchie einen Rest Sympathie für den alten Adel zu erkennen; gerade dies dürfte dafür sprechen, dass er sich hier nicht erst nachträglich als dessen Gegner stilisierte, sondern dass seine Kritik seit Langem gereift war. Es ist jedoch nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass liberale Adelskritik wiederum keineswegs mit einem emphatischen Egalitarismus einhergehen musste. So hegte Rathenau zwar um 1900 Sympathien für demokratische Ideale, gelegentlich zeigte er sich sogar für sozialistische Ideen aufgeschlossen. Dennoch war er zutiefst elitär eingestellt und wie so viele damals von einem stark von Nietzsche beeinflussten Denken der Bestenauslese durchdrungen. [55] Noch Anfang 1918 monierte er, in demokratisch gewählten Parlamenten säßen der Natur der Sache nach viel zu wenige wirklich herausragende Menschen, stattdessen engstirnige Interessenvertreter. Als Gegengewicht schwebte ihm ein Oberhaus vor mit „Menschen, die etwas sind, etwas können und etwas geschaffen haben“; [56] wozu er gewiss sich selbst zählte. Er befürwortete dann aber auch mit großer Selbstverständlichkeit – anders als die meisten Mitglieder des Großbürgertums – die Weimarer Republik, wurde einer ihrer wichtigsten Repräsentanten und bezahlte dafür mit seinem Leben. Derart schillernd waren Rathenaus Leben und Denken, [57] dass so ziemlich alles hineinprojiziert werden kann und worden ist. [58] So verwundert es nicht, dass Rathenau aufgrund seiner adelskritischen Äußerungen einmal als Gewährsmann eines selbstgewissen Bürgertums erscheint, dann aber auch selbst als „feudalisiert“. [59] Schon der baronisierte Industrielle und Schlossbesitzer in Carl Sternheims satirischem Stück mit dem vertrauten Titel 1913 (entstanden 1913/14), dessen Snobismus sich insbesonde insbesondere in seiner Hassliebe zum alten Adel äußert, ist offenbar durch Walther Rathenau inspiriert. [60] Maximilian Harden äußerte 1927 kurz vor seinem Tod in unnachahmlicher Bosheit, sein einstiger Freund Rathenau habe sich seine Orden, auf die er stolz gewesen sei – den Roten Adlerorden habe er „immer“ getragen –, durch Schmeichelei und Hartnäckigkeit erworben. [61] Kam hierin wohl nicht zuletzt persönliche Verbitterung zum Ausdruck, so nannte auch der schwerreiche Berliner Industrielle und Mäzen James Simon 1930 Rathenau einen Kriecher gegenüber Wilhelm II. – und unterstrich damit zugleich seine eigene vorgebliche Kaiserferne. [62] Ganz anders der Schriftsteller Franz Blei in seiner gleichfalls 1930 erschienenen Rathenau-Miniatur: „Rathenau kam einmal, es war vor dem Kriege, als später Gast ins Haus unseres vortrefflichen Verlegers [Samuel] Fischer, zur Stunde, da die Gäste in des Hausherrn behaglichem Büchersalon den Kaffee tranken. Er war ins Schloß geladen gewesen und trug auf der Brust den klirrenden Schmuck seiner Orden, ein gut Dutzend Stück. ‚Ich habe zu Hause im Kasten noch mehr so Blecher‘, sagte er auf einen lächelnd-erstaunten Blick, solchen Ehrungen gegenüber eine Gleichgültigkeit andeutend, die er als ein seines Wertes sehr bewußter Mensch besaß, zumal er die Orden auch nicht für seine Schriften bekommen hatte. Aber er war doch stolz darauf, daß ihn, den Juden, dem als Einjährigen das Leutnantspatent verweigert, und der als Vizewachtmeister entlassen wurde, die von ihm so bewunderte preußische Herrensippe hatte anerkennen müssen. Rathenau war klug genug, zu wissen, daß mit Adelung und Orden jener, der beides verleiht, sich nur die nötige Brücke über einen trennenden Abstand legt, ohne die ein öfterer Verkehr nicht möglich. Mit einem bloßen Herrn Rathenau gab’s für Majestät keine wiederholte Unterhaltung; er mußte als ein für Auszeichnung Dankender kommen. Aber daß die Sippe ihn dafür vorschlagen hatte müssen, freute ihn. Denn er, der braune Beduine, der von seinen spanisch-jüdischen, mit Berberblut vermischten Ahnen sprach, liebte aus Gegensätzlichkeit diese blonden, rosigen, knochigen Preußen mit den blauen Augen, die Offiziere dieses kleinen Adels, die Dichter dieser dürftigspröden Landschaft, die Beamten dieses sparsamen Haushalts.“ [63] Tendenz und Ton dieser Charakterisierung Rathenaus korrespondieren in vielem auffällig mit zeitgleichen, monarchie- und auszeichnungsfeindlichen Äußerungen von jüdischen Großbürgern beziehungsweise deren Söhnen wie bei James Simon oder in den viel zitierten Memoiren von Carl Fürstenberg, [64] die im Rückblick auf die Vorkriegszeit den Eindruck erwecken, Fürstenberg habe mehrfach angebotene Adels- und Ordensverleihungen abgelehnt (und sei dafür von Emil Rathenau sogar gerügt worden). Das dadurch hervorgerufene Bild ist das eines selbstbewussten Bürgers, der Hofgesellschaft, Dekorationen und nicht zuletzt Wilhelm II. innerlich distanziert gegenübergestanden und den Kontakt zu alledem auf das Notwendigste beschränkt habe. Im Zuge der Debatte nach 1945 um „Feudalisierung“ und „Sonderweg“ in der jüngeren deutschen Geschichte ist Walther Rathenau persönlich vergleichsweise wenig in den Blick geraten. [65] Dies dürfte viel damit zu tun haben, dass er als Publizist verschiedentlich, schon vor dem Krieg, scharfe Kritik an der Macht des alten Adels, aber auch an einem seiner Meinung nach obrigkeitshörigen Bürgertum geübt hatte. [66] Das machte ihn zum Kronzeugen gegen das wilhelminische Bürgertum (und zu einer der wenigen Persönlichkeiten seiner Schicht um 1900, auf die in West- und Ostdeutschland gleichermaßen positiv Bezug genommen wurde [67]). So befindet zwar Fritz Stern, Rathenau habe danach gestrebt, „eine Art deutscher Benjamin Disraeli zu werden, der spätere Lord Beaconsfield, eine fürstliche, exotische Erscheinung“, auch habe er sich an Kaiser und Kanzler anfangs „peinlich unwürdig“ angebiedert. Insgesamt sieht Stern in Rathenau aber bei allem individuellen Schillern einen hellsichtigen Kritiker feudaler Eliten und Verhaltensweisen, eine Folge insbesondere seiner Erfahrungen, als Jude ausgegrenzt zu werden. [68] Und für Werner Mosse – dem es ein wichtiges Anliegen war, deutsch-jüdische Großbürger vom Vorwurf der Assimilation und der Feudalisierung [69] zu entlasten [70] – waren Emil und Walther Rathenau (wie auch Fürstenberg, Ballin, Warburg und andere) stolze Bürger (und Juden), die Adelstitel relativ problemlos hätten erlangen können, teils auch angeboten bekommen hätten, solche Ehrungen jedoch bewusst ablehnten. [71] Diese Deutung war für den weiteren Gang der Forschung sehr wirkmächtig. Walther Rathenau war unter den Zeitgenossen des späten Kaiserreichs sicherlich eine singuläre Persönlichkeit. Doch das an seinem Beispiel besonders gut belegbare, höchst ambivalente Verhältnis zu Adel, Monarchie und Auszeichnungen sagt nicht nur über ihn, sondern auch über das wilhelminische Bürgertum etwas aus – allerdings nur dann, wenn Rathenau nicht einseitig zum Pionier der „modernen“ Welt stilisiert wird, wie dies oft geschieht. [72] Lothar Gall etwa adelt Rathenau zum antiwilhelminischen Protagonisten eines von ihm ausgemachten modernistischen „neuen Bürgertums“, für ihn die Vorhut der bundesrepublikanischen Gesellschaft: „Hier bildete sich, in Ansätzen, über das ‚neue Bürgertum‘ eine neue Mittelschicht heraus, die weit in die Bereiche der ehemals unterbürgerlichen Schichten hineinreichte. Sie bildete den Kern und den Ausgangspunkt dessen, was fünfzig Jahre später der Soziologe Helmut Schelsky als ‚egalisierte [!] Mittelstandsgesellschaft‘ bezeichnen sollte, die inzwischen zur Gesellschaft schlechthin geworden sei.“ [73] Dementsprechend erscheinen die Rathenaus bei Gall als zwar zu Wohlstand gelangt, aber in ihrer Lebensführung und ihrem Auftreten bewusst bescheiden geblieben – im Gegensatz zu mondäneren, etablierteren Kreisen des Besitzbürgertums. [74] Dieses rückprojizierte Bescheidenheitsethos, das – unter anderem in Rathenaus Fall – schon zur Zeit der Weimarer Republik eine Rolle spielte, ist in der jüngeren Geschichtsschreibung als Zuschreibung für das wilhelminische Bürgertum weit verbreitet. So heißt es etwa in einer 2005 erschienenen Rathenau-Biografie über den bedeutenden Berliner Bankier Carl Fürstenberg, einen der wichtigsten Geschäftspartner der Rathenaus, dieser habe „schon bei seinem ersten Dienstherrn [Gerson von] Bleichröder gelernt, mit hohen und höchsten Würdenträgern des Staates umzugehen. Er selbst aber legte keinerlei Wert auf Orden und Ehrenerweise. Den Adelstitel trug man ihm mehrmals an, er lehnte ihn jedesmal ab. Das hat Walther [Rathenau], der die deutsche Aristokratie für eine weitgehend unfähige Kaste hielt, die den Talenten aus dem Volk die Machtpositionen versperrte, natürlich imponiert.“ [75] So natürlich ist diese Annahme freilich überhaupt nicht, schon deshalb, weil sich keines dieser eher unwahrscheinlichen Nobilitierungsangebote nachweisen lässt. Doch will auch Lothar Gall über Rathenau wissen: „Das fand er furchtbar – alles was Wilhelm [II.] ist, alles Dekor, auch die ganzen Äußerlichkeiten des damaligen Bürgertums, das sich sogar adeln lässt. Sein Vater hat einmal gesagt: Ich brauche doch keinen Adelstitel. Ich bin ein erfolgreicher Bürger. Das ist es.“ [76] Auch für diesen angeblichen Ausspruch Emil Rathenaus gibt es bislang keinen belastbaren Beleg. Das Verhältnis Walther Rathenaus zum Adel und zu mehr oder minder adeligen Attributen und staatlich-monarchischen Auszeichnungen war nun einmal widersprüchlich, wodurch er hervorragend in seine Zeit passte. Wie hatte er doch 1911 in seiner Kritik der Zeit hellsichtig geschrieben: „Der Geschichtsschreiber späterer Zeiten wird vor einem Rätsel stehen, wenn er sich zu vergegenwärtigen sucht, wie unsre Zeit mit den äußeren Organen ihres Geistes demokratisch zu fühlen glaubte, während das Wollen ihrer inneren Seele den Aristokratismus noch immer duldete und zu erhalten strebte.“ [77] Besser lässt sich die Chiffre 1913 nicht charakterisieren, wenn man nach dem Verhältnis von Bürgertum und Adel fragt. Dieses Verhältnis war eindeutig uneindeutig. Weder „der (alte) Adel“ noch „das (Besitz-)Bürgertum“ waren homogene Sozialformationen, die jeweils glasklar für ein altes oder ein neues Zeitalter standen. Leider ist es aber in jüngerer Zeit, wie Gabriele Clemens kritisiert, zu einer unguten Verengung des Forschungsblicks auf bürgerliche ‚Heldentaten‘ der Kaiserzeit gekommen. Dies hat zur Folge, dass etwa Mäzenatentum und Vereinswesen um 1900 mittlerweile als durch und durch bürgerliche Domänen gelten – zu Unrecht. Überhaupt gab es im Kaiserreich wohl weit mehr Berührungspunkte zwischen Bürgerlichen und Adeligen als von der Forschung heute oft angenommen. [78] Dass dies für die Metropole Berlin auf besondere Weise galt, wird bei der Lektüre des Tagebuchs von Walther Rathenau sehr deutlich. Die Forschungsgeschichte ist mittlerweile selbst zur Herausforderung geworden, wenn es darum geht, sich auf das so bunte Fin de Siècle einen Reim zu machen. Beachtlich ist insbesondere, welche extrem unterschiedlichen Sichtweisen auf das preußisch-deutsche Bürgertum nach 1945 sich in ihrer Meinungsführerschaft abgelöst haben. Überspitzt gesagt: erst das Bürgertum als nützlicher Idiot vorgestriger Eliten, servil und politisch rückwärtsgewandt, zugleich aber wirtschaftlich, technisch und (natur-)wissenschaftlich überaus fortschrittlich (ein Grundwiderspruch, der im Übrigen eine aggressive Außenpolitik seitens des Deutschen Reiches bedingt oder befördert habe); dann jedoch das Bürgertum als Speerspitze des Fortschritts, das sich im europäischen Vergleich nicht zu verstecken brauchte, das mit Monarchie und Adel, kurz: der Welt von gestern, abgeschlossen hatte und all dem bereits das Grab schaufelte. Die eigentümliche historiographische Karriere des preußisch-deutschen Bürgertums vom Moderne-Verweigerer zum Moderne-Wegbereiter wäre noch eine genauere Analyse wert. Auch hinsichtlich der sich um 1990 stark ändernden Motive der deutschen Bürgertumsforschung besteht noch Forschungsbedarf, angefangen mit dem zeitlichen Zusammentreffen vom Ende des „Sonderweg“-Paradigmas und dem wissenschaftlich wirkmächtigen Aufkommen des Leitbilds der „Zivilgesellschaft“. Stärkere Beachtung als bislang verdienen anzunehmende Verschiebungen schon in den 1980er Jahren, als in Bielefeld und Frankfurt das Design für Bürgertumsforschung in großem Stil (wenn auch mit unterschiedlichen Nuancen) entwickelt wurde. Fand doch in der alten Bundesrepublik mit der Zeit „parallel zur Liberalisierung des Konservatismus“ eine „liberale […] Durchdringung der Sozialdemokratie“ statt, wie Jens Hacke mit Blick auf prominente Geistes- und Sozialwissenschaftler feststellt. [79] Ebenso wäre es wohl aufschlussreich, für die letzten etwa anderthalb Jahrzehnte eingehender den wissenschaftlichen und publizistischen Bürgertums- und Bürgerlichkeitsdiskurs im Wechselspiel von Geschichts- und Gegenwartsbezug zu untersuchen: Möglicherweise ist die Zustimmung zu „bürgerlichen“ Gesellschaftskonzepten und Wertvorstellungen (was auch immer damit jeweils gemeint ist) weiter deutlich gestiegen, [80] mit Folgen für die Vergangenheitsdeutung. Was für die Geschichtsforschung immer zutrifft, gilt allem Anschein nach für die Bürgertumsgeschichte in besonderem Maße: Vergangenheitsdeutungen und Gegenwartsauslegungen sind nicht zu trennen. Die Diskussion bleibt spannend. |
Anmerkungen * Postprint meines gleichnamigen Beitrags in: Ute Daniel u. Christian K. Frey (Hgg.), Die preußisch-welfische Hochzeit 1913. Das dynastische Europa in seinem letzten Friedensjahr, Braunschweig 2016, S. 26–36. [1] Ich möchte Ute Daniel vielmals für ihre genaue Lektüre und guten Anregungen danken. [2] Vgl. etwa den Bestseller Illies, Florian: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2012. Viel Kritik an Illies im Themenheft von Hübinger, Gangolf: Das Jahr 1913 in Geschichte und Gegenwart. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 38,2 (2013), S. 172-190. Vgl. auch das Themenheft „1913“ der Zeitschrift Indes mit einer grandios anschaulichen Titelabbildung: Ein schlichtes, schwarzes Quadrat von Malewitsch als Sinnbild der Moderne – nicht nur in der Kunst – durchbricht eine verschnörkelte, plüschige Seidentapete. Aus der alten Zeit schlüpft die neue, denn 1913 „brach der Keim der Moderne bildhaft durch alle Risse des im Vergehen begriffenen Jugendstils“. Lühmann, Michael / Rahlf, Katharina: Editorial, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2,2 (2013), S. 1-3, hier S. 1 [Nachtrag 2018: auch online unter http://indes-online.de/2-2013-1913-editorial]. Diese Lesart findet sich auch schon bei Ingold, Felix Philipp: Der große Bruch. Rußland im Epochenjahr 1913. Kultur – Gesellschaft – Politik, Berlin 2013 (Erstausgabe: München 2000). [3] Siehe dazu auch Mares, Detlev / Schott, Dieter: 1913. Annäherungen an ein Jahr der Möglichkeiten, in: dies. (Hgg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 2014, S. 7-22, hier S. 7. [4] Mittlerweile handelt es sich sozusagen um ein „langes“ Jahr 1913. Den Anfang machte in gewisser Weise ein Marbacher Ausstellungsreigen zum „‚annus mirabilis‘ für die deutsche Dichtung“: Hans Robert Jauß, zit. n. Gfrereis, Heike / Lepper, Marcel: Vorwort, in: 1912. Ein Jahr im Archiv. Mit einem Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht (Marbacher Magazin 137/138), Marbach 2012, S. 5-7, hier S. 7. Und nun werden auch die letzten Friedensmonate des ersten Kriegsjahrs zu einem Moment gebündelt, so bei Jelinek, Gerhard: Schöne Tage. 1914. Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2013. [5] Eine solch intensive Rückschau kann für Historiker wiederum selbst zu einem interessanten Forschungsobjekt werden. Was den Umgang mit „1913“ nach 100 Jahren betrifft, dürfte es besonders aufschlussreich sein, einmal die Verhältnisse in der Stadt und Region Braunschweig zu untersuchen, wo werbewirksam ein ganzes Themenjahr begangen wurde. Vgl. als Überblick das vom städtischen Kulturdezernat herausgegebene Veranstaltungsheft „1913 – Braunschweig zwischen Monarchie und Moderne“, Beilage zur Braunschweiger Zeitung, 14.06.2013. Höchst interessant in diesem Zusammenhang ist, dass in starker Abgrenzung zum umfangreichen offiziellen Ausstellungs- und Vortragsprogramm mit „Jetzt schlägt‘s 13“ ein linkes Gegenprojekt ins Leben gerufen wurde (vgl. die Website www.jetzt-schlaegts-13.com). Siehe dazu auch das im Auftrag des Braunschweiger Friedenszentrums herausgegebene Heft von Kramer, Christian (Hg.): 1913 – ein kritischer Blick auf die Braunschweiger Monarchie. Der Kampf gegen Armut, Krieg und Dreiklassenwahlrecht, Braunschweig 2013. [6] Siehe dazu „Heldengeschichte der Kunstmoderne“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.04.2013 [Nachtrag 2018: Autor: Jan von Brevern, Seitenangabe: S. N 3]; „Reine Erregung“, in: Süddeutsche Zeitung, 25.06.2014 [Nachtrag 2018: Autor: Georg Imdahl, Seitenangabe: S. 10]. [7] Siehe dazu „Vorsicht, die Russen tanzen den Urknall!“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2013 [Nachtrag 2018: Autorin: Wiebke Hüster, Seitenangabe: S. 35]. [8] Die Argumentation beruht auf Vorarbeiten des Autors in seiner Dissertation: Drewes, Kai: Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a. 2013, besonders die Kapitel 2.1 (über die Entwicklung des Topos vom – vor allem jüdischen – Adelsverweigerer im wilhelminischen Deutschland) und 2.3 (zu Auszeichnungswünschen und -chancen an der Spitze des Großbürgertums und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Auszeichnungsarten). [Nachtrag 2018: Weitere Informationen zu Buch und Promotionsprojekt unter www.juedischer-adel.de. Siehe außerdem meinen Aufsatz The Invention of Deviance. How Wilhelmine Jews Became Opponents of Ennoblement, in: Leo Baeck Institute Year Book, Bd. 54 (2009), S. 171–189.] [9] Was den fachwissenschaftlichen Diskurs betrifft, heißt es etwa in einem neueren Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung: „Strukturell waren die ständische Ordnung und damit der Rang des Geburtsadels sowie der Reiz der Nobilitierung der Bürgerlichen, die das Ständische nachahmt und damit zugleich bestätigt und fiktionalisiert, […] durch Konstitutionalisierung im 19. Jahrhundert (durch die unabwendbare Einbeziehung des dritten Standes in eine verfassungsmäßige Gewährleistung der Staats- und Militärfinanzierung) schon relativiert.“ Renn, Joachim: Faszination Adel – Popularität unzeitgemäßer Standesprivilegien als Problem der Demokratie? Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64,15 (2014), S. 49-54, hier S. 52. [10] Illies: 1913 (Anm. 2), S. 249. [11] Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2009, S. 57f. Dem österreichischen Kommerzialrat entsprach der damals in Preußen und anderen deutschen Staaten verliehene Ehrentitel (Geheimer) Kommerzienrat. Nicht zuletzt von Bloms Buch inspiriert war eine 2014 im Schweizerischen Nationalmuseum gezeigte Ausstellung über die anderthalb Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, die einmal mehr mannigfaltige Aufbrüche und Vorwegnahmen der „Moderne“ in den Mittelpunkt der Betrachtung rückte. Vgl. den Ausstellungsband Steiner, Juri / Zweifel, Stefan (Hgg.): Expedition ins Glück 1900-1914, Zürich 2014. [12] Hoffmann, Gabriele: Max M. Warburg, Hamburg 2009, S. 60f. [13] Prominentes Beispiel ist Wehlers aufsehenerregendes Buch über das Kaiserreich. Darin problematisiert er nicht zuletzt „die Untertanenmentalität“ in der deutschen Gesellschaft und schreibt in diesem Zusammenhang, dass der „Staat […] sowohl vor harter Repression keineswegs zurückscheute, als auch Ordenssegen und Nobilitierung zielstrebig einsetzte“, wogegen „schwer anzukommen“ gewesen sei; „[s]ogar auf seine schärfsten Gegner färbte dieser Verhaltensstil – vielleicht sogar notwendig – ab“. Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 (Deutsche Geschichte 9), Göttingen 1973, S. 133f. [14] Vgl. hierzu u.a. Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt zwischen von 1860 bis 1925 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 139), Göttingen 2000, S. 300-315; Budde, Gunilla: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 93. [15] So wurden in Preußen unter Wilhelm I. 313-mal einfache Adelstitel (mit dem Prädikat „von“) verliehen, unter Wilhelm II. 739-mal, und auch der relative Anteil der Wirtschaftsbürger an den Neuadeligen nahm mit der Zeit stark zu (siehe das Zahlenmaterial bei Cecil, Lamar: The Creation of Nobles in Prussia, 1871-1918, in: American Historical Review 75 (1970), S. 757-795). Für die trotz aller Unterschiede korrespondierenden Verhältnisse in der Donaumonarchie (wo Adelstitel insgesamt häufiger verliehen wurden als in Preußen und viel selbstverständlicher auch an Personen jüdischen Glaubens) siehe die Zahlen bei Jäger-Sunstenau, Hanns: Statistik der Nobilitierungen in Österreich 1701-1918, in: Österreichisches Familienarchiv 1 (1963), S. 3-16; ders.: Sozialgeschichtliche Statistik der Nobilitierungen in Ungarn 1700-1918, in: Bericht über den sechzehnten österreichischen Historikertag in Krems/Donau (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 25), Wien 1985, S. 578-583. In Großbritannien nahmen die Nobilitierungen von Wirtschaftsbürgern um 1900 gleichfalls stark zu, siehe nur für den Bereich des House of Lords Pumphrey, Ralph E.: The Introduction of Industrialists into the British Peerage: A Study in Adaption of a Social Institution, in: American Historical Review 65 (1959), S. 1-16. Was den durchaus transnationalen Kosmos der zahlreichen, teils auch außereuropäischen Verdienstorden, ihre Zugänglichkeit und Attraktivität betrifft, ist für diese Zeit noch einige – auch quantitative – Forschungsarbeit zu leisten. Es mag an dieser Stelle genügen, allgemein darauf hinzuweisen, dass Wilhelm II. auch mehr Orden verlieh als seine Vorgänger und dass Bankiers unter ihm mit der 2. Klasse des Kronenbeziehungsweise des Roten Adlerordens rechnen konnten, während ihnen unter Wilhelm I. (und Bismarck) regelmäßig nur die jeweils 4. Klasse zugänglich war. Vgl. dazu Reitmayer, Morten: Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 136), Göttingen 1999, S. 71. [16] Siehe nur „Personalia“, in: Berliner Architekturwelt 16,5 (1914), S. 217, online verfügbar unter http://opus.kobv.de/zlb/volltexte/2006/557/pdf/BAW_1914_05.pdf (zuletzt eingesehen am 29.03.2015): „Oberhofbaurat Geyer hat die Brillanten zum Kronenorden II. Klasse, Geheimrat [Emil] Rathenau den Orden selbst erhalten; den Architekten Karl Lange und Stahn wurde der Baurattitel verliehen; Professor Adolf Brütt erhielt anläßlich der Einweihung des hannoverschen Rathauses den Roten Adlerorden II. Klasse. Den Ehrenpreis der Stadt Berlin (3000 Mk.) verlieh die Städtische Kunstdeputation an Architekt Arnold Hartmann für seinen großzügigen Idealentwurf eines Nationalparkes auf dem Pichelswerder.“ [17] Vgl. nur den Anfang der Millionärsliste bei Martin, Rudolf: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen, Berlin 1912. Zu diesem bemerkenswerten Nachschlagewerk und seinem Bearbeiter siehe jetzt Gajek, Eva Maria: Sichtbarmachung von Reichtum. Das Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 79-108. Ganz ähnlich in Österreich: Unter den reichsten Wienern kurz vor dem Ersten Weltkrieg (siehe die alphabetische Liste mit Biogrammen bei Sandgruber, Roman: Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Wien 2013, S. 305-469) waren gerade in der Spitzengruppe (in der sich übrigens wie in Preußen auch eine ganze Reihe von Altadeligen befand) etliche geadelte Bürgerliche, darunter anders als in Preußen viele Industrielle und Bankiers jüdischen Glaubens. Auch in Österreich wollte aber andersherum nicht jeder Großbürger, dem dies möglich gewesen wäre, den Adel erlangen (und entsprechend viel Geld für wohltätige Zwecke stiften); was umso deutlicher daran zu erkennen ist, dass in der Habsburgermonarchie Adelsverleihungen insgesamt viel häufiger stattfanden als in Preußen. [18] Es kann nicht oft genug betont werden, dass Berlin und Preußen trotz ihrer starken Stellung nicht mit Deutschland in den Grenzen von 1871 gleichzusetzen sind. Auch was großbürgerliches Distinktionsverhalten und Kontakte zwischen Bürgerlichen und Adeligen betrifft, ist es wichtig, die Verhältnisse in anderen Staaten und Städten im Deutschen Reich nicht zu vernachlässigen. Freilich, bei allen regionalen Unterschieden lassen sich doch auch oft ähnliche Muster feststellen, zumal es reichlich Austausch zwischen den deutschen Staaten und darüber hinaus gab. Was das Herzogtum Braunschweig betrifft, bietet etwa das Beispiel des Verlegers Bernhard Tepelmann einiges Anschauungsmaterial, siehe dazu Lütjen, Andreas: Die Viewegs. Das Beispiel einer bürgerlichen Familie in Braunschweig 1825-1921, Münster 2012, S. 252-293: Durch Heirat Chef des bedeutenden Traditionsverlags Friedr. Vieweg & Sohn, verlegte Tepelmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere Nobelpreisträger und war insofern ein „moderner“ Pionier wie auch ein zahlungskräftiger Förderer unter anderem der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (darüber hinaus war er Mitglied zahlreicher weiterer Vereine sowie einer Loge). Zugleich führte Tepelmann, der sich auch philanthropisch betätigte, als einer der Reichsten des Herzogtums ein äußerst repräsentatives Leben, war unter anderem Reservehauptmann, Ehrendoktor, Schloss- und Gutsbesitzer und Inhaber verschiedener in- und ausländischer Orden – welche bei seinem Begräbnis 1919 auf einem Kissen dem Sarg vorangetragen wurden, ebd., S. 280. Der Besuch von Herzogin Viktoria Luise auf dem Gut der Tepelmanns zwischen 1913 und 1918 (vgl. ebd. das Foto auf dem vorderen Deckel) war fraglos eine weitere, besondere Auszeichnung. An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine Untersuchung der – eher konservativen – braunschweigischen Nobilitierungspolitik vom Wiener Kongress bis zur Novemberrevolution, wie es sie für einige andere kleinere Staaten im Deutschen Reich gibt, ein Desiderat der Forschung ist. [19] 1917 bezeichnete er seinen Cousin Max Liebermann im Berliner Tageblatt als Abkömmling des „jüdischen Patriziats“ der Reichshauptstadt, was die Annahme rechtfertigt, dass er dies auch für sich selbst in Anspruch nahm. Zit. n. Scheer, Regina: „Wir sind die Liebermanns“. Die Geschichte einer Familie, Berlin 2006, S. 313. Schölzel, Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie, Paderborn 2006, S. 25 weist darauf hin, dass die Ahnenporträts der Familie Rathenau einen Anklang an aristokratische Bräuche bedeuteten. Allerdings war derlei auch im Bürgertum nicht ganz unüblich. Walther Rathenau selbst war wohl vor allem stolz auf die angeblichen oder tatsächlichen sephardischen Vorfahren seiner Mutter, ebd., S. 21, 88, 150. Er beanspruchte also für sich – ähnlich wie Benjamin Disraeli – eine innerjüdische Vornehmheit. [20] 1873, Rathenau war fünf Jahre alt, erhielt sein Großonkel Adolf Liebermann, ein reicher Berliner Industrieller und Kunstsammler, den österreichischen Ritterstand mit dem Prädikat „von Wahlendorf “ (und kurz darauf auch, es waren vergleichsweise liberale Jahre, eine der seltenen preußischen Anerkennungen für einen solchen Fall). Dessen drei Söhne, von denen später zwei konvertierten, hatten in Berlin um 1900 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in Verbindung mit dem erkennbar nicht-preußischen Titel mit einigen gesellschaftlichen Problemen zu kämpfen. Das Beispiel seiner großbürgerlich-neuadeligen Cousins mit ihren besonderen Nöten wird Rathenau dann und wann vor Augen gestanden haben, doch gibt es hierüber leider kaum Quellen. [21] Unter Wilhelm II. waren die schon erwähnten Aufnahmen Eduard Arnholds in das Herrenhaus und die Nobilitierung beziehungsweise Baronisierung von Maximilian (Freiherrn von) Goldschmidt(-Rothschild) 1903/07 absolute Ausnahmen von der Regel, die viel mit ihren besonders großen Vermögen zu tun hatten. Außerdem fiel vermutlich (zumindest indirekt) positiv ins Gewicht, dass beide praktisch keine Rolle im jüdischen Leben spielten. [22] Weimarer historisch-genealoges Taschenbuch des gesamten Adels jehudäischen Ursprunges 1 (1912), S. 491 (wo unter anderem auch auf den teuren Kauf des vormals königlichen Schlosses Freienwalde durch Walther Rathenau hingewiesen wird). [Nachtrag 2018: Siehe dazu auch meinen Blogbeitrag über Die Rathenaus im Semi-Gotha.] [23] Spenkuch, Hartwin: Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 110), Düsseldorf 1998, S. 423. [24] Die Ehrungen werden aufgelistet in: Pohl, Manfred: Art. „Rathenau, Emil Moritz“, in: Hockerts, Hans Günter (Hg.): Neue Deutsche Biographie. Bd. 21, Berlin 2003, S. 172-173, hier S. 173. Online verfügbar unter http://www.deutsche-biographie.de/sfz52308.html (zuletzt eingesehen am 29.03.2015). [25] Königlich statistisch-topographisches Bureau (Hg.): Hof- und Staats-Handbuch des Königreichs Württemberg, Stuttgart 1873, S. 148. [26] Berliner Tageblatt, 22.06.1915 (Morgenausgabe, 3. Beiblatt). Online verfügbar unter http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27646518/ (zuletzt eingesehen am 29.03.2015). Ebd. ähnlich die meisten der fünf weiteren Traueranzeigen, wobei nur die des AEG-Aufsichtsrats und -Vorstands „Ehrendoktor“ schreibt. [27] Der Fragebogen hat eine gewisse Bekanntheit dadurch erlangt, dass der neue Außenminister und damit Behördenchef auf dem mit der Schreibmaschine ausgefüllten Formular seines Hauses bei der Frage nach seiner Konfession handschriftlich eintrug: „Diese Frage entspricht nicht der Verfassung“. Siehe Kröger, Martin: Walther Rathenau verweigert die Auskunft, in: Biewer, Ludwig / Blasius, Rainer (Hgg.): In den Akten, in der Welt. Ein Streifzug durch das Politische Archiv des Auswärtigen Amts, Göttingen 2007, S. 50-53. [28] Siehe das Porträtfoto und ein Foto der Festtafel (Emil Rathenau eingerahmt von seiner engsten Familie und einem halben Dutzend, teils adeligen Ministern) bei Pohl, Manfred: Emil Rathenau und die AEG, Berlin u.a 1988, S. 205. Laut Beschreibung handelt es sich (zwischen Weste und Kragen) um den Roten Adlerorden 2. Klasse mit Eichenlaub, das Kreuz 2. Klasse des Kronenordens und das Kommandeurkreuz des belgischen Leopoldordens sowie (als Ordensschnalle über der linken Brust) um die China-Gedenkmünze, die Zentenar-Medaille, den österreichischen Orden der Eisernen Krone 3. Klasse und das Offizierskreuz der französischen Ehrenlegion. [29] Über die Praxis des Tragens von Orden etc. bei Bürgerlichen um 1900 ist, abgesehen von vielen eindeutigen Porträts auf der einen und relativierenden Anekdoten auf der anderen Seite, erstaunlich wenig bekannt. [30] Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 408, Anm. 1. [31] Walther Rathenau an Mathilde Rathenau, Bitterfeld 06.09.1898, in: Jaser, Alexander u.a. (Hgg.): Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. 5: Briefe. Teilbd. 1: 1871-1913 (Schriften des Bundesarchivs 63), Düsseldorf 2006, S. 574. [32] Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 62f. [33] Jaser u.a. (Hgg.): Briefe 1871-1913 (Anm. 31), S. 904, Anm. 1. [34] Pogge von Strandmann, Hartmut (Hg.): Walther Rathenau. Tagebuch 1907-1922, Düsseldorf 1967, S. 127 (07.02.1911). [35] Gegenüber Kurt Blumenfeld und Albert Einstein soll Rathenau Anfang 1922 geäußert haben, angesichts seiner jüdischen Herkunft wäre er lieber im weniger antisemitischen Großbritannien Politiker geworden. Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 149. [36] Martin: Jahrbuch (Anm. 17), S. 35, 257f. [37] Drewes: Jüdischer Adel (Anm. 8), S. 114-117. Der einzige konfessionsmäßige Jude, den Wilhelm II. adelte, der Bankier, Besitzer eines großen Fideikommisses in Posen (nur um baronisiert werden zu können!) und k. u. k. Generalkonsul Maximilian (Freiherr von) Goldschmidt(-Rothschild) in Frankfurt, überstrahlte sie mit seinem Vermögen alle. [38] Siehe dazu Hecker, Gerhard: Walther Rathenau und sein Verhältnis zu Militär und Krieg (Militärgeschichtliche Studien 30), Boppard/R. 1983, S. 257-261; Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 75-78. [39] Bernhard Fürst von Bülow an Friedrich Wilhelm von Loebell, 27.12.1908, zit. n. Pogge von Strandmann (Hg.): Tagebuch (Anm. 34), S. 101. [40] Siehe dazu die Kommentare in Pogge von Strandmann: Tagebuch (Anm. 34), S. 74, 100-102, 118; Jaser u.a. (Hgg.): Briefe 1871-1913 (Anm. 31), S. 904, Anm. 1, 931f., Anm. 1; außerdem Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 77f. [41] Walther Rathenau an Bernhard Fürst von Bülow, Berlin 15.01.1910, in: Jaser u.a. (Hgg.): Briefe 1871-1913 (Anm. 31), S. 931. [42] Walther Rathenau an Wilhelm Schwaner, Berlin 15.02.1916, in: Jaser, Alexander u.a. (Hgg.): Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. 5: Briefe. Teilbd. 2: 1914-1922 (Schriften des Bundesarchivs 63), Düsseldorf 2006, S. 1517. Rathenau kam auf sein Eisernes Kreuz zu sprechen, da er im Zusammenhang mit Anfeindungen gegen ihn hoffte, das Prestige des Ordens wie auch die dadurch angezeigte Verbindung zur Monarchie würden ihn schützen. Freilich war diese militärische Dekoration als Würdigung seiner Tätigkeit als Leiter der Rohstoffabteilung im Kriegsministerium 1914/15 eine eigentlich zu geringe Auszeichnung. Vgl. Hecker: Walther Rathenau (Anm. 38), S. 256. [43] Jaser u.a. (Hgg.): Briefe 1871-1913 (Anm. 31), S. 976, Anm. 3, 991f. [44] Siehe dazu Teut, Anna: Bürgerlich königlich. Walther Rathenau und Freienwalde, Berlin 2007; Sabrow, Martin: Restaurator einer anderen Moderne. Rathenau und Schloss Freienwalde, in: Delabar, Walter / Heimböckel, Dieter (Hgg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien (Moderne-Studien 5), Bielefeld 2009, S. 181-193. [45] Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 146f., der um die von Rathenau gewählte Anredeformel wohl zu viel Aufhebens macht. [46] So Gall, Lothar: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009, S. 146. [47] Brenner, Wolfgang: Walther Rathenau. Deutscher und Jude, München 2005, S. 219. [48] Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 35f., 83. [49] Abgebildet zum Beispiel bei Gall: Walther Rathenau (Anm. 46), S. 52. [50] Zit. n. Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 123. [51] Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 122-124, 135. In diesem Zusammenhang ist auch seine Forderung von Anfang 1914 zu sehen, Zollschranken aufzuheben, um so den ostelbischen Großgrundbesitz zu schwächen, ebd., S. 139. [52] Schulin, Ernst: Krieg und Modernisierung. Rathenau als philosophierender Industrieorganisator im Ersten Weltkrieg, in: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 21), Berlin 1990, S. 55-69, hier S. 58. Zu Rathenaus entsprechender Vorkriegskritik an der Rekrutierung der diplomatischen Elite in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien siehe Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 133, 445, Anm. 854 [recte: 874]. [53] Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 120f. mit Bezug auf Rathenaus unveröffentlichte Vorkriegsschrift Zur Psychologie der Dynasten. Um 1907 äußerte Rathenau, „Geschäfte müssen monarchisch verwaltet werden“, und sprach sich im selben Atemzug für eine Art kooperativen Führungsstil aus. Zit. n. Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 56. [54] Walther Rathenau an Lisbeth Stubenrauch, Berlin 22.01.1919, in: Jaser u.a. (Hgg.): Briefe 1914-1922 (Anm. 42), S. 2090. [55] Zu Rathenaus Elitekonzepten siehe Gerstner, Alexandra: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, besonders S. 51-68, 344-375. Auf seine rassistisch grundierte Unterscheidung von „Mutmenschen“ und „Furchtmenschen“, worin nicht zuletzt aufs Neue sein Nachdenken über Adel und Judentum zum Ausdruck kam, kann hier nicht näher eingegangen werden. [56] Rathenau, Walther: „Von Wahl und Volksvertretung“, in: Berliner Tageblatt, 12.02.1918, S. 1-2, hier S. 2 (Morgenausgabe). Online verfügbar unter http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27646518/ (zuletzt eingesehen am 29.03.2015). Vgl. auf S. 3 die Meldung zum Stand der Debatte zur Herrenhausreform im Abgeordnetenhaus. Zu Rathenaus liberalem Elitismus im Hinblick auf die erste Kammer des Parlaments siehe Spenkuch: Herrenhaus (Anm. 23), S. 146f., ebd. ein längeres Zitat aus dem Zeitungsartikel. [57] Was Rathenaus Publizistik vor 1914 betrifft, ist eine Etikettierung als konservativ oder liberal schlicht nicht möglich. Schölzel: Walther Rathenau (Anm. 19), S. 141. [58] Siehe dazu Sabrow, Martin: Walther Rathenau, in: François, Etienne / Schulze, Hagen (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2, München 2001, S. 601-619 und 725f. [59] In verschiedenen, auch wissenschaftlichen Publikationen, im Internet und in anderen Zusammenhängen ist übrigens erstaunlich oft von „Walther von Rathenau“ die Rede, und in mindestens einem deutschen Ort (Ensdorf bei Saarlouis) gibt es eine Walther-von-Rathenau-Straße. Für die gelegentliche Zuschreibung eines Adelstitels mag neben Rathenaus hohem Ministeramt [Nachtrag 2018: und seiner distinguierten Erscheinung] eine Rolle spielen, dass sich die einstige Herkunftsbezeichnung Rathenow zufälligerweise gut als Name einer preußischen Adelsfamilie vorstellen lässt. [Nachtrag 2018: Siehe zu dieser Frage auch meinen 2014 gehaltenen Vortrag Walther »von« Rathenau? Judentum und Anerkennung um 1900.] [60] Siehe Theel, Robert: „Der Snob Rathenau“. Carl Sternheims Parvenü Christian Maske als dramatische Verschlüsselung des wilhelminischen Industriellen, Philosophen und Zeitkritikers Walther Rathenau, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 37 (1996), S. 229-259. [61] Maximilian Harden an Hermann Schützinger, 30.06.1927, in: Hellige, Hans Dieter (Hg.): Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. 6: Walther Rathenau, Maximilian Harden. Briefwechsel 1897-1920, München 1983, S. 904-906, hier S. 904f. Demnach habe Rathenau für die Afrikareisen ursprünglich den Titel Geheimer Legationsrat gefordert, was Harden „ihm mühsam ausredete“, ebd., S. 905. Harden erwähnt auch die Berufung Hollmanns an die Spitze des AEG-Aufsichtsrats, die Walther Rathenau in besonderer Weise den Zugang zur Hofgesellschaft ermöglicht habe, ebd., S. 904. Der tief verbitterte Harden, auf den 1922 ebenfalls Rechtsradikale ein Attentat verübt hatten, das er knapp überlebte, bediente damit kurz vor seinem Tod Klischees, die von seinen antisemitischen Feinden hätten stammen können. Beispielsweise enthält ein zur NS-Zeit erschienener Beitrag mit den angeblichen Erinnerungen einer ungenannten Frau an Rathenau neben anderem Böswilligen die Behauptung, Rathenau habe nichts unversucht gelassen, sich an Wilhelm II. anzubiedern, etwa durch den Kauf von Freienwalde. Auch wird geätzt, dass „Familie Rathenau wochenlang nicht schlief, weil man zum Kaiser befohlen war“. Dieser habe aber erfreulicherweise einmal „R.[athenau] bei einer solchen Gelegenheit nicht den erwarteten Adel, sondern nur einen Orden“ verliehen. „Enttäuscht sagte Rathenau: ‚Wenn man den Adel bekommt, so läßt sich viel damit machen!‘“ NN: Meine Erinnerungen an Walter Rathenau, in: Tannenberg-Jahrbuch 8 (1938), S. 62-67, hier S. 64 (Hervorhebungen im Original gesperrt). [62] Rathenau habe sich „in widerlicher Weise […] an den Kaiser heran[gemacht], ihm dabei nahe auf den Leib rückend, was der Kaiser nicht liebte“, so Simon am 14. September 1930 zu dem Journalisten Ernst Feder laut dessen Aufzeichnungen: Lowenthal-Hensel, Cécile / Paucker, Arnold (Hgg.): Ernst Feder. Heute sprach ich mit … Tagebücher eines Berliner Publizisten 1926-1932, Stuttgart 1971. [63] Blei, Franz: Männer und Masken, Berlin 1930, S. 257f. Auffällig ist die hohe Zahl von Orden, die Rathenau demnach innegehabt haben soll. Bescheidenheit zur Zeit der Monarchie (im Hinblick auf einen angeblich angebotenen Titel und ein Ministeramt) wurde Rathenau schon 1922 von seinem Privatsekretär in einem Nachruf attestiert, Geitner, Hugo: In memoriam Walther Rathenau, in: Die Neue Rundschau 33 (1922), S. 829-832, hier S. 831. Interessanterweise ist in einem späteren biographischen Essay von Blei über Rathenau trotz ähnlicher Wortwahl ein wichtiges Detail verändert: „Als er, der als Vizewachtmeister sein Einjährigenjahr beschlossen hatte – ein Jude konnte nicht Leutnant werden – im Laufe des Kriegs zu Orden kam, lächelte er wohl darüber, denn er hatte sie nicht für seine Schriften bekommen, aber es freute ihn, dass die von ihm so sehr bewunderte und geliebte preussische Herrensippe ihn hatte anerkennen müssen“. Blei, Franz: Walter Rathenau, in: ders.: Zeitgenössische Bildnisse, Amsterdam 1940, S. 16-20, hier S. 16. Von der Vorkriegszeit ist hier also gerade nicht die Rede. [64] Fürstenberg, Hans (Hg.): Carl Fürstenberg: Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers 1870-1914, Berlin 1931, S. 198f., 441f. [65] Siehe aber aus zionistischer Perspektive Kallner, Rudolf: Herzl und Rathenau. Wege jüdischer Existenz an der Wende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, der S. 316 davon spricht, Rathenau (den er keineswegs einseitig negativ sieht) habe es zum Preis seiner Selbstaufgabe als Jude vermocht, auch „ohne Taufe von einem Teil der alten Adelsschicht akzeptiert, ja, sogar geschätzt zu werden“. [66] Einige Zitate der Vorkriegszeit bei Michalka, Wolfgang: Walther Rathenau: Vordenker der Moderne, in: ders. / Scheidemann, Christiane: Walther Rathenau, Berlin 2006, S. 27-55, hier S. 40f. [67] Zu Rathenau als „Erinnerungsort“ siehe Sabrow, Walther Rathenau (Anm. 58). [68] Stern, Fritz: Walther Rathenau. Der Weg in die Politik, in: ders.: Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 1996, S. 176-213 (Zitate S. 180-182). [69] Besonders prägnant Cecil, Lamar: Jew and Junker in Imperial Berlin, in: Leo Baeck Institute Year Book 20 (1975), S. 47-58, der konvertierte nobilitierte Familien des Großbürgertums in der Reichshauptstadt kritisiert, denn sie „played the social game according to Junker rules“, während „other wealthy Jews abandoned the Fatherland for more cosmopolitan centres, especially London and Paris, where Jews could find not only toleration but a society more appreciative of their gifts and one prepared to grant them unfettered acceptance“. Ebd., S. 58. [70] „Die landläufige Auffassung, Mitglieder der jüdischen Großbourgeoisie hätten geschlossen (und letzten Endes erfolglos) versucht, durch Reichtum und wirtschaftliche Positionen Zugang um jeden Preis zu der aristokratisch-bürgerlichen Führungsschicht zu gewinnen (wenn nicht schlankweg zu ‚erzwingen‘), bedarf der Revision“. Mosse, Werner E.: Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: ders. (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 33), Tübingen 1976, S. 57-113, hier S. 83). [71] Ebd., S. 83-85. [72] So ist der Beitrag von Martin Sabrow (Anm. 58) in den Deutschen Erinnerungsorten bezeichnenderweise Teil eines Abschnitts über „Die Moderne“, eingereiht zwischen Aufsätzen über das Bauhaus und Marlene Dietrich. [73] Gall: Walther Rathenau (Anm. 46), S. 33f. und passim. Schelsky selbst spricht von einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. [74] Gall: Walther Rathenau (Anm. 46), S. 18. [75] Brenner: Walther Rathenau (Anm. 47), S. 129. [76] Interview mit Lothar Gall von Hammelehle, Sebastian: Echte Außenseiter, in: Der Freitag, 04.09.2009. Online verfügbar unter http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/echteaussenseiter (zuletzt eingesehen am 29.03.2015). [Nachtrag 2018: jetzt online verfügbar unter https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/echte-aussenseiter.] [77] Rathenau, Walther: Zur Kritik der Zeit, in: Schulin, Ernst (Hg.): Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. 2: Hauptwerke und Gespräche, München u.a. 1977, S. 17-103, hier S. 33. [78] Siehe dazu Clemens, Gabriele B.: Im Prokrustesbett der Bürgertumsforschung. Drei neue Arbeiten zum bürgerlichen Mäzenatentum? in: Rheinische Vierteljahrsblätter 69 (2005), S. 283–291; dies.: Auf Biegen und Brechen: Bürgerliches Mäzenatentum im urbanen Kontext des 19. Jahrhunderts, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2008), S. 71-78. Clemens regt an, auch für den deutschen Fall in der Rückschau von einer Notabelngesellschaft zu sprechen, statt krampfhaft Bürgertum und Adel analytisch voneinander zu scheiden; ein Vorschlag, der diskutiert zu werden verdient. [79] Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik (Bürgertum. Studien zur Zivilgesellschaft. Neue Folge 3), Göttingen 2006, S. 20. [80] Vgl. Kaiser, Paul: Bürgerlichkeit ohne Bürgertum? in: Aus Politik und Zeitgeschichte 58, 9-10 (2008), S. 26-32. |